Schild: Herr Dr. Berthold, wir sind dankbar und freuen uns, dass wir mit Ihnen heute dieses Interview führen dürfen. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch: Sie selbst sind kürzlich 95 Jahre alt geworden. Ihr Unternehmen feiert in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag – das sind zwei beeindruckende Jubiläen. Was bedeuten diese Jubiläen für Sie persönlich?

Berthold: (lacht) Vielen Dank und ja, wenn man da jetzt heute ein Jubiläum macht, dann würde ich schon am Anfang anfangen. Und der Anfang war nun mal eben der Rudolf Berthold und nicht ich, ja? Mein Vater war ja nun erst mal Professor an der technischen Hochschule Berlin und kommt aus dem Röntgeninstitut der Technischen Hochschule Stuttgart unter Prof. Glocker, der wiederum ein Schüler vom alten Herrn Röntgen war. Ich bin wissenschaftlich gesehen so zusagen ein Urenkel von Prof. Röntgen und mein Vater ein Enkel. So.

Mein Vater hat sich mit Röntgenphysik befasst und bei Siemens & Halske in Berlin gearbeitet, die sich ebenfalls mit den medizinischen Anwendungen der Röntgenstrahlung befasst haben. Und dann kam die Frage, ob man diese Technik auch zur Materialprüfung verwenden kann, und zwar zur sogenannten zerstörungsfreien Materialprüfung. Und da wurde mein Vater sozusagen zum Gründer der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung.

Das habe ich dann schon teilweise miterlebt. Nun ist es sehr schwer, wenn man etwa auf dem Bau Röntgenstrahlung zur Materialprüfung einsetzt im Vergleich zu einer Praxis und deswegen haben mein Vater und andere erst entsprechende Anlagen entwickelt, mit deren Hilfe man z.B. Schweißnähte prüfen konnte, ob sie nur Zunder haben oder ob die wirklich massiv sind. Und da muss auf einer Seite eine Röntgenröhre, auf der anderen Seite ein Röntgenfilm, der war dann in einer Gummimanschette drin.  Man konnte auch eine Fluoreszenzfolie reintun, dann gab es noch mehr Licht – übrigens auf Kosten der Auflösung.

Es wurde damals eine Reichs-Röntgenstelle gegründet und das ist natürlich zum Teil pikant, da parallel zum Dritten Reich. Und da mussten auch Leute wie mein Vater mitarbeiten, der niemals Parteimitglied wurde, aber die Technik, die von ihm entwickelt wurde, war natürlich auch für den Krieg gut: Da konnte man Schweißnähte an U-Booten prüfen, was ansonsten die damals übliche Technik zum Prüfen von Brücken war. Für letzteres gab es dann die dunkelgrauen Wägen, die damals in Deutschland einigermaßen verbreitet eingesetzt wurden, die einerseits den erforderlichen Trafo stellten und andererseits eine Dunkelkammer, in der dann gleich der Röntgenfilm entwickelt werden konnte. Sie waren außerdem mit einem Dynamo ausgestattet, der über den Dieselmotor des Fahrzeugs betrieben wurde. Und da konnte dann gleich der Fachmann schauen, ist die Schweißnaht der Brücke in Ordnung oder nicht.

Das war aber alles weit – oder einigermaßen weit – von der Firma. Wie wir dann schließlich in Wildbad gelandet sind, war schon merkwürdig.

Mein Vater war Professor an der Technischen Hochschule Berlin und noch im Krieg wurde dann die Reichsröntgenstelle ausgebombt. Die musste verlegt werden an einen bombensicheren Ort. Da kam man ausgerechnet auf die Idee Neuenbürg. Da wurde dann die Reichsröntgenstelle hin in das ehemalige Hotel Bären verlegt, oder besser gesagt eine Ausgliederung davon, das Vierjahresplaninstitut unter der Leitung von Prof. Adolf Trost. Die leerstehenden Räume hatte eine Wildbader Tante des Professors gefunden und so ging es wieder in die Heimat nach Württemberg zurück. Und dahin gingen wir alle mit. Im Frühjahr 1949 sind wir dann endlich von Neuenbürg nach Wildbad in das Gasthaus „Zum Kühlen Brunnen“ gezogen, da die Werkstatt in Neuenbürg zu eng geworden war.

Und jetzt kommt eigentlich meine Lieblingsgeschichte – also mein Vater war nicht Parteimitglied und nach Ende des Krieges hatte ihm eine politische Laufbahn offen gestanden, da die meisten in dem Alter Nazis waren, war das eine Ausnahme, ja? …. Ja, und als stellvertretender Bürgermeister von Wildbad musste er dann manchmal auch dem französischen Militärgouverneur reporten. Und die Militärregierung, die reichte runter hier bei uns zum Beispiel von den Franzosen bis einschließlich dem Landrat. Der Landrat durfte schon kein Deutscher mehr sein. Und da hat man einen französischen Offizier eingesetzt. Und der französische Landrat oder Kreiskommandant in Calw war gewissermaßen der Vorgesetzte der örtlichen Bürgermeister. Der war also auch der verwaltungsmäßige Vorgesetzte von meinem Vater in dessen Eigenschaft als stellvertretender Bürgermeister. 

So. Und das war Raymond Boulanger… und das ist eine lange Geschichte für sich selbst, der war Elsässer Jude und hieß eigentlich, Weil und hat sich in Nordafrika der Exilregierung von de Gaulle angeschlossen und ist sozusagen aufmarschiert von Cassbablanca bis Calw, ja? Und aus der anderen Richtung kam nun Rudolf Berthold aus Berlin. Und in Wildbad, da haben sich die beiden getroffen und wurden schnell Freunde.

Zuvor, nach dem Krieg hatten die Franzosen die Geräte des ausgelagerten Vierjahresplaninstitut ja beschlagnahmt. So, und damit waren die ganzen Messgeräte, Röntgenröhren und Zählrohre alles weg, irgendwo in Calw gespeichert.

Und jetzt wurden die wohl langsam Freunde und irgendwann hat dann wohl Raymond Boulanger gesagt, was soll ich eigentlich mit dem Zeug? … können wir gar nicht gebrauchen – wollen Sie es haben? Und damit hat mein Vater dann 1949 seine Firma gegründet, das Laboratorium Prof. Dr. Rudolf Berthold.

Raymond war dann einer der besten Freunde unserer Familie und dann ist auch noch lustig, inzwischen hatte die Firma angefangen ein bisschen zu wachsen und schon sehr früh haben wir erkannt, wir brauchen eigentlich eine Verkaufsniederlassung in Frankreich. Na ja, und dann bin ich nach Paris. Ich kannte überhaupt keinen Franzosen außer Boulanger, den alten Freund der Familie, und hab den dann gefragt können Sie uns helfen eine geeignete Person für die Niederlassung zu finden? Und zu meiner größten Überraschung hat der dann geantwortet, ja, das kann ich selber machen! (lacht)… und so wurde der dann Leiter unserer Niederlassung in Frankreich. Das war wirklich sehr romantisch, kann man sagen.

Schild: Sie haben die Leitung des Unternehmen nach dem Tod Ihres Vaters 1960 übernommen. Was waren Ihre größten Herausforderungen?

Berthold: Ich wollte gar nicht in die Firma gehen. Ich wollte an der Hochschule bleiben und hatte gute Chancen. Mich hatte die Max-Planck-Gesellschaft nach Stanford geschickt, um über Hochenergie-Physik was zu lernen und mitzubringen, ja? Und während des zweijährigen Aufenthalts wurde nach etwa einem Jahr mein Vater todkrank und da kam ich zurück. Meine Familie, die blieb noch dort, weil ich gesagt hatte ich komm dann wieder zurück. Und ich habe dann meinen Vater sozusagen beim Sterben begleitet und wollte dann wieder zurück nach Stanford .…. ja, und dann haben die anderen Eigentümer – das war nicht nur die Familie Berthold – gemeint Du bist wohl verrückt, Du musst jetzt hier Geschäftsführer werden. Du bist der Nachfolger. (lacht)… ja, ja, sowas habe ich doch noch nie gemacht – egal, Du bist jetzt Geschäftsführer.

Außerdem hatte die Max-Planck-Gesellschaft mir den Aufenthalt in Stanford ja bezahlt und da stand jetzt die Frage im Raum, ob ich das alles zurückbezahlen muss.  Aber der damalige Atomminister Balke hat sich dann dafür eingesetzt, dass mir die Rückzahlung erlassen wurde, weil die Unternehmensführung als wichtig angesehen wurde.

Ich war also kein Kaufmann und kein Unternehmer, aber ein ambitionierter Kernphysiker. Auf die Position eines Firmenleiters war ich nicht vorbereitet. Jedoch haben mir meine Fachkenntnisse wenigstens in der Technologie geholfen, weil ich an der Entwicklung neuer Geräte beteiligt war.

Außerdem war das Geld knapp. Doch zum Glück war das Unternehmen wie eine große Familie mit fast familiären Bindungen der Mitarbeiter untereinander. Da wurde - ganz in schwäbischer Manier - auch noch am Wochenende an den Messgeräten getüftelt, wenn es sein musste.

Ich hatte zwar so eine Art Buchalter. Das war der Finanzverantwortliche, aber das war kein richtiger Kaufmann. Und dann begannen die Probleme. Daraufhin habe ich den ersten kaufmännischen Leiter angeheuert – der war gar nicht schlecht, allerdings Alkoholiker, woraufhin ich ihn entlassen habe. Dann kam der nächste – den musste ich auch entlassen. Und dann kam Hans Oberhofer und auf einmal hatten wir Geld.

Seine Vorgänger hatten zum Beispiel kein Mahnsystem gehabt: Wenn die Kunden nicht bezahlt haben, dann haben die das Ding einfach stehen lassen und so etwas gab es bei Hans Oberhofer nicht. Wenn es ums Geld geht, dann sollte man ihn fragen – er ist immer die beste Anlaufstelle!

Technisch waren wir eigentlich von Anfang an gut – und schon weit über das Stadium eines Startups hinaus. Das kam natürlich von der Röntgenstelle. Wir hatten eine gute Institutswerkstatt. Und dann hatten wir den wirklich führenden Experten in der Zählrohrmesstechnik, den Dr. Adolf Trost – einen wirklich genialen Physiker, übrigens auch in der Entwicklung von Ultraschallgeräten sehr bewandert.   Er war unser Entwicklungsleiter Strahlenmeßgeräte und machte einen wirklichen Unterschied.

Schild: Sie haben die gesamte Unternehmensgeschichte der Firma Berthold miterlebt. Gab es in dieser Zeit ein Ereignis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist? Sozusagen Ihr “persönliches Berthold-Highlight”?

Berthold: Sie werden es kaum glauben, das war der Radio-Dünnschichtchromatographie-Scanner. Als der erste Scanner wirklich funktioniert hat, das war eine Weltprämiere. Damals gab es zwei Biochemiker in Berlin, der eine war bei Schering und der andere an der Uni und die haben sich einen Dünnschichtscanner ausgedacht. Wir wussten, so ganz kriegen wir das alleine nicht hin und haben dann mit ihnen zusammengearbeitet. Dann haben wir das Ding zusammengebaut und als wir es dann ausprobieren wollten, habe ich noch gesagt, das kann ja überhaupt nicht funktionieren – ich könnte jetzt erklären warum, will ich aber nicht tun. Wir haben es dann trotzdem in Betrieb genommen, mit einem Durchflusszählrohr und einer Dünnschichtplatte, ja und dann passierte das unglaubliche Wunder, es hat funktioniert!

Unser Dünnschichtscanner von Anfang der 60er Jahre erlaubte zum ersten Mal radioaktive Marker, die durch Dünnschichtchromatographie getrennt worden waren, zerstörungsfrei und quantitativ zu bestimmen.

Ich habe dann später herausgekriegt, dass ein Ziehfeld die Elektronen quasi aus der Luft in das Zählrohr gezogen hat und das eigentlich physikalisch unmögliche, möglich gemacht hat. Das war natürlich eine große Freude und so mein freudigstes Ereignis! Es war übrigens auch der Start unserer Bioanalytik-Linie.

Schild: Berthold hat im vergangenen Jahr erstmals die 100 Millionen-Euro-Grenze in einer Geschäftswelt überschritten, die sich immer schneller verändert. Worauf beruht Ihrer Meinung nach der Erfolg des Unternehmens?

Berthold: Worauf beruht dieser Erfolg? Nun, da muss ich auf die Qualität und den Einsatz der Mitarbeiter hinweisen. Bei denen will ich mich auch gerne bedanken. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind der Hauptgrund dafür, dass wir weltweit so einen exzellenten Ruf und so ein gutes Image besitzen. Die Menschen, die hier agieren, darauf kommt es an. Sie sind das größte Kapital und der wichtigste Erfolgsfaktor in unserem Unternehmen. Sie haben in den vergangenen 75 Jahren den Unterschied gemacht und gemeinsam werden wir auch in der Zukunft erfolgreich sein. Davon bin ich fest überzeugt!

Schild: Gibt es etwas, das Sie den Mitarbeitern von Berthold für die nächsten 75-Jahre mit auf den Weg geben wollen?

Berthold: Weiter so, aber dabei niemals vergessen innovativ zu bleiben!

Schild: Herr Berthold, wir bedanken uns für das sehr persönliche und herzliche Gespräch mit Ihnen und wünschen Ihnen auch weiterhin alles Gute!